Ein gutes Buch überzeugt nicht nur durch seine Haupthandlung. Die Geschichte, die es erzählt, entwickelt sich mit jeder Szene. Der Leser soll nicht nur gespannt wissen wollen, wie es zu Ende geht, sonst könnte er ja einfach die letzte Seite aufschlagen. Er soll gebannt werden, von Szene zu Szene weiter mitfiebern, jede Seite gierig umblättern und jedes Detail wissen wollen. Ihr habt euren Plot, ihr habt eure Charaktere – jetzt schickt sie auf die Bühne, um zu tun, wofür ihr sie erschaffen habt.
Orientierung
Damit eure Charaktere agieren können, müsst ihr die Bühne erst einmal definieren, und zwar sehr rasch. Damit ist kein Infodumping gemeint, in dem ihr möglichst viel über die Umgebung, die exakte Position der Sonne, die atomare Zusammensetzung des Fußbodens und wie das alles überhaupt zustande kam beschreibt. Es ist gut, wenn ihr diese Dinge über eure Welt wisst, um sie kohärent und anschaulich rüberzubringen. Doch den Leser erschlagt ihr damit.
Gebt ihm bereits im ersten Absatz ein Gefühl dafür, wer sich wann wo befindet und was er dort tut (vielleicht sogar wieso). Das soll natürlich nicht eine Liste sein, die ihr abzählt. Streut die richtigen Worte ein, und der Leser versteht eure Szenerie von selbst.
Beispiel: “Mark schaufelte eine weitere Ladung Kuhdung zur Seite. Bei jedem Schritt drohten seine Gummistiefel entweder im Matsch festzukleben oder unter ihm wegzurutschen. “Was ‘ne Scheiße”, murrte er, und stieß die Mistgabel erneut in den Dreck.”
Ohne dass es direkt ausgesprochen werden muss, wissen wir: Mark (wer) ist vermutlich ein Bauer, und zwar nicht im Mittelalter, sondern im Gummistiefelzeitalter (wann). Er hält sich im Stall auf (wo), geht einer Arbeit nach (was), die er nicht mag. Außerdem klingt auch nicht sehr gebildet und ist eher im deutschen Norden anzusiedeln als im österreichischen Ländle, was das Wer und Wo noch einmal stärker definiert.
Innerhalb der ersten Sätze entwickelt der Leser Interesse, Sympathie oder Abneigung gegen diesen Charakter – und entscheidet, ob er weiterliest oder nicht. Wenn er keine Orientierung bekommt, weder den Charakter noch die Situation erfassen kann, wird er keinen Grund sehen, an der Geschichte dranzubleiben. Deshalb ist der Einstieg in jede Szene wichtig, besonders jedoch der Beginn der gesamten Geschichte.
Ist die Orientierung des Lesers geglückt, werden sich neue Details ganz von selbst im Kopf des Lesers zusammenfügen. Nach dem obigen Einstieg wird jeder zwar ein eigenes Bild von Mark haben, aber ich bin mir sicher: Niemand hat ihn im piekfeinen Anzug oder im Kettenhemd gesehen, bei allen wird er vermutlich dreckig, ein bisschen verschwitzt und in Arbeitskleidung gewesen sein. Und so fügt sich jedes Wort zu einer Geschichte, die mitschwingt, aber nicht erklärt werden muss.
Die Orientierung sollte aber natürlich auch der Autor nicht verlieren. Wenn Bauer Mark die Schubkarre links neben sich abstellt und sich ein paar Zeilen später rechts an selbiger Schubkarre den Zeh anstößt, hat er entweder ein Wurmloch gefunden, oder der Autor hatte den Kuhstall eben nicht vor Augen.
Dialoge
Schweigendes Nebeneinanderher-Reiten mag Winnetou und Old Shatterhand genügt haben, für den heutigen Leser ist das eine ziemlich öde Angelegenheit. Dialoge beleben nicht nur jede Szene, sie verraten auch viel über die sprechenden Charaktere, die Dinge, über die sie reden, und ihre persönliche Sicht auf die Welt um sie herum.
Die Essenz eines guten Dialogs lässt sich mit einem Wort beschreiben: Konflikt. Wenn sich die Sprechenden über alles einig sind, können sie genauso gut den Mund halten. Je mehr ihr von der Persönlichkeit eurer Protagonisten in ihre Dialoge hineinpackt, desto interessanter werden ihre Gespräche. Ob sie nun lustig sind, rührend oder der Leser einen der Sprecher am liebsten ohrfeigen würde – Hauptsache, ihr löst Gefühle aus damit. Und wenn man eben nur einen Charakter zur Hand hat, darf dieser ruhig laut denken, vor sich hin schimpfen oder mit leblosen Dingen eine Konversation beginnen.
Kleine Anmerkung am Rande: Durchforscht eure Geschichten nach Stellen, an denen ihr die Möglichkeit eines Dialogs ungenutzt gelassen habt. Auch wenn es nur ein Satz ist, den ihr in eine direkte Rede verpacken könnt. “Packt euch, ihr Gesindel!” löst weit mehr im Leser aus als “Sie wurden abgewiesen.”
Glaubwürdigkeit
Generell gilt: Der Autor ist Herr seiner Buchstabenwelt, und der Leser wird ihm Glauben schenken. Wenn in einer Geschichte Schweine fliegen können, dann können sie eben fliegen. Je fremder und unbegreiflicher die Welt jedoch ist, desto mehr Überzeugungsarbeit muss der Schreiberling leisten. Schreibt er, dass Zucker süß ist, wird ihm niemand widersprechen. Wenn dagegen Pfeffer in den Tee getan wird, um ihn genießbarer zu machen, wird der Leser stolpern: Hat der Autor keine Ahnung von Tee (oder Pfeffer)? Ist seine erschaffene Welt ein wenig wie Alices Wunderland und dort ist Pfeffer eben süß? Warum? Was ist sonst noch anders? Kann er dann nicht einfach ein anderes Kraut erfinden?
Prinzipiell ist es am einfachsten, sich an bestehenden Dingen zu orientieren, seien es Naturgesetze oder beispielsweise der Vorgang des Schwertschmiedens. Manches erklärt einem der gesunde Menschenverstand, für alles andere betreibt man Recherche. Niemand verlangt, dass ihr zu Schwertschmiedemeistern werdet, bloß weil euer Protagonist über den Marktplatz spaziert und dabei einen Schmied auf den Amboss dreschen sieht. Aber solche kleinen nebensächlichen Beobachtungen verleihen eurer Szenerie Lebendigkeit, also solltet ihr sie erwähnen – und zwar korrekt.
Bei den Beobachtungen, die ihr euren Leser miterleben lasst, solltet ihr immer darauf achten, aus welcher Perspektive sie gemacht werden, und sie auch sprachlich entsprechend behandeln. Wenn Bauer Mark ins Wunderland gerät und dort den Schmied beobachtet, wird er vermutlich wenig Ahnung haben, wie genau dessen Arbeit funktioniert. Entsprechend darf für ihn der Muskelprotz ruhig auf einen Klumpen Metall einprügeln. Der Schmied dagegen weiß sehr genau, was er da tut (hoffen wir jedenfalls für ihn). Diese Kompetenz muss nicht nur in seinen Handlungen deutlich werden, sondern in der Art, wie er darüber denkt: Für ihn ist es kein Metallklumpen, sondern feinster Stahl, den er auf seinem Amboss zu einer Damaszenerklinge faltet.
Wichtig ist auch die Einhaltung der eigenen Gesetze: Wie bereits erwähnt, sollten nicht nur eure Charaktere konsequent agieren. Auch die Umwelt und die Regeln, die ihr für eure Welt aufstellt, dürfen nicht willkürlich verändert werden, sonst verliert ihr eure Glaubwürdigkeit. Aus dem selben Grund solltet ihr die Lösung des Deus ex machina möglichst vermeiden. Der Held sitzt in der Patsche, und wie durch ein Wunder taucht im letzten Moment sein treuer Gefährte auf? Nicht nur langweilig und klischeehaft, sondern auch unglaubwürdig. Natürlich solltet ihr für die brenzlige Situation, die ihr euch ausgedacht habt, auch einen Trumpf im Ärmel bereithalten – aber diesen müsst ihr dem Leser vorzeitig ankündigen, und zwar möglichst dezent. Vorhersehbar soll euer Höhepunkt natürlich nicht werden!
Cliffhanger
Die ersten Wörter sind am Wichtigsten, die letzten noch wichtiger.
“Nur noch diese Szene fertiglesen, dann hör ich auf …” Dieser Vorsatz, den schon mancher müde Leser nachts um zwei gefasst hat. Das Ende eurer Szenen soll es dem Leser unmöglich machen, das Buch aus der Hand zu legen. Nicht, solange das Leben des Helden am seidenen Faden hängt, die Angebetete endlich das entscheidende Lächeln lächelt, der Komet auf Kollisionskurs mit der Erde steht … Wenn der Zeiger eurer Story-Uhr sich in Bewegung setzt, um die letzte verbleibende Minute bis zum Mitternachts-Höhepunkt zurückzulegen, ist das der Punkt, an dem eure Szene enden soll.
Wenn ihr euch einfach jedes Mal eine neue Gefahr ausdenkt, die gerade JETZT hinter dem Busch hervorspringt, wird das schon bald langweilig. Noch schlimmer: Durch ihre Häufigkeit werden diese Schreckmomente banalisiert. Besser ist es, den Cliffhanger an die Handlung zu knüpfen, beziehungsweise an die Erwartungen und Hoffnungen, die der Leser an die Handlung stellen. Und zwar an jeden Aspekt der Handlung, so treibt ihr jeden Handlungsstrang voran und schafft außerdem Abwechslung.
Andeutungen können jedoch auch eine Falle sein. Zu viele davon lassen den Leser verwirrt und frustriert zurück. Wenn ihr nicht all eure Karten sofort auf den Tisch legen und den Leser mit einem Geheimnis weiterlocken wollt, ist das legitim. Allerdings sollte sich das Andeuten nicht über endlose Szenen ziehen, und zu viele Geheimnisse sollten ebenfalls nicht herumschwirren. Wie so oft zählt: Qualität vor Quantität. Sucht euch ein schönes Geheimnis aus, deutet es vielversprechend an – und erfüllt dieses Versprechen in absehbarer Zeit.
Achtung, auch hier spielt Perspektive eine große Rolle. Wenn sich eure Figur gedanklich mit etwas beschäftigt, sind Andeutungen in der Regel fehl am Platz. Der Charakter denkt an etwas, also kann er es demjenigen, der seinen Gedanken lauscht, nicht verheimlichen. Und auch für den Cliffhanger gilt: Die Spannung kann nicht nur für den Leser bestehen, auch der Charakter muss dem Ausgang der Szene entgegenfiebern. Denn seine Gefühle und Gedanken sind es, die den Leser anspornen. Wenn dem Helden gleichgültig ist, was da im Gebüsch raschelt, entsteht für den Leser keine Gefahrensituation und dadurch auch keine Spannung.
Tipps zum Schluss
Kurz und knapp zusammengefasst: Für eine gelungene Szene muss der Autor seinen Leser fürsorglich am Beginn abholen, ihm alles zeigen, ihn teilhaben lassen … und dann vor eine Klippe stellen, ihm einen Schubs geben und nicht verraten, ob er das Gleichgewicht verliert und tatsächlich hinunterfällt.
Nächste Woche folgt der letzte Teil zum Thema Sprache. Denn die Feder ist bekanntermaßen mächtiger als das Schwert!