Bekanntlich sind aller guten Dinge drei. Deshalb kommt hier das dritte Outtake zu Noras Welten – Durch den Nimbus. Diesmal ist es ein Szenenausschnitt aus einem der Experimente, mit denen Nora ihren Therapeuten davon überzeugen wollte, dass sie tatsächlich in Geschichten fällt. Auch diese Szene befand sich fast am Anfang des Buches, also keine Spoiler-Gefahr.
Wie bereits erwähnt, dauerte der Therapieteil des Buches ursprünglich sehr viel länger. Er ging über mehrere Sitzungen und damit auch Tage, in denen die beiden diverse Experimente durchführten. Das alles musste jedoch auf eine einzige Sitzung zusammengestampft werden, was einige logistische Probleme aufgeworfen hat: Klamottenwechsel waren nicht mehr möglich, und natürlich durfte Ben Pawell nicht einen ganzen Stapel unterschiedlichster Bücher in seiner Praxis herumliegen haben – in der langen Version waren es ein Sachbuch, ein Kinderbuch, eine Notiz und zu guter letzt natürlich Eldinor. Hier also der Beginn von Noras Besuch in einem Pixi-Heft.
Mäxchens Besuch auf dem Bauernhof
„Was für eine Geschichte ist das?“, fragte sie. Wenigstens vorbereitet wollte sie sein.
„Mäxchens Besuch auf dem Bauernhof“, antwortete er. „Ich nehme die Überraschung vorweg: Mäxchen begegnet einer Kuh.“
Nora schnaubte. „Schon gut, ich hab’s ja verstanden.“
Ein Besuch auf einem Bauernhof. Was konnte dabei schon schiefgehen? Vieles. Aber welche Wahl hatte sie? Sie brauchte die Behandlung. Sie hatte nicht den Mut für das Messer. Noch nicht.
„Zwei Minuten“, sagte sie schließlich. „Versprechen Sie es mir.“
„Natürlich. Aber denken Sie daran, mein Ziel ist es, dass Sie gar nicht erst verschwinden.“
„Wenn das so leicht wäre, müsste ich nicht hier sitzen.“
„Versuchen Sie es. Konzentrieren Sie sich nicht auf den Text, sondern auf Ihre Umgebung. Das Gefühl des Sofas, das Ticken der Uhr, den Geruch der Praxis. Alles, was Ihnen hilft, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren.“
Als ob sie das nicht schon oft genug probiert hätte. Dennoch tat Nora wie geheißen. Noch einmal sah sie sich gründlich im Raum um, prägte sich die Möbel und Gegenstände ein. Auch das Gefühl, das sie vermittelten. Professionell, aber gemütlich. Ein warmer Raum, gemacht, um seine Sorgen zu erzählen. Nora presste ihren Rücken in die Polster der Couch, um sie besser zu spüren. Ihre freie Hand klammerte sie Halt suchend um die Kante der Sitzfläche.
Erst dann wagte sie es, den Blick auf den Gegenstand ihres Experiments zu richten. Das quadratische Cover wurde von der Zeichnung eines pausbäckigen Jungen beherrscht, der fröhlich von einem roten Traktor herunterwinkte.
Welcher verantwortungslose Spinner lässt ein Kind einen Traktor steuern?
Nun gut, sie würde wohl kaum direkt vor den riesigen Rädern landen. Hoffentlich.
Noch einmal presste sie die Lider zusammen. Sammelte sich, so gut es ging. Sie schob ihren Daumen zwischen die Seiten, dort, wo sie vom häufigen Lesen verbogen waren, und schlug das Buch auf.
„Tante Klara und Onkel Tom besitzen einen großen Bauernhof, nicht weit von der Stadt.“ Wind kam auf. Nora verstärkte ihren Griff um den Sitzpolster. „Mäxchen freut sich schon so darauf, all die Tiere kennenzu-“
„-lernen.“ Weiter kam Nora nicht. Das Büchlein in ihrer Hand war verschwunden, ebenso die Couch, Doktor Pawell und der Rest der Praxis. Sie seufzte. Es war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Trotzdem – ein kleiner Funken Hoffnung hatte sich eingeschlichen. Nora hatte sich von der Überzeugung des Psychologen anstecken lassen, obwohl sie es besser gewusst hatte.
Weiches Gras kitzelte ihre Hand, die sich nun statt in Couchkissen in krümelige Erde grub. Es war zu grün, jeder Halm völlig identisch mit seinen Nachbarn. Nora hob den Blick zum Himmel und sah tiefstes Blau, von weißen, scharf umrissenen Bauschewolken durchbrochen. Die Sonne lachte als gelbe Scheibe auf ein kitschiges Bauerngehöft herunter.
Ja, sie lachte tatsächlich. Ein breites Grinsen zog sich von einem Rand ihres runden Gesichts zum anderen.
Nora stand auf und klopfte sich Gras und Erde vom Rock. Das immerhin war tröstlich an Kinderbüchern: Die bizarre Welt erinnerte einen daran, dass man sich nicht in der Wirklichkeit befand. Manchmal war es nur zu leicht, diesen Umstand zu vergessen.
Zwei Minuten. Wie lange mochte sie Zeit haben? Sie konnte natürlich einfach hier auf der Wiese bleiben und warten. Auf das irre Kleinkind mit dem Traktor zum Beispiel.
Nein. Sie befand sich nicht auf einer beliebigen Grünfläche. Ihre Besuche führten sie immer in die unmittelbare Nähe des Geschehens. Dass sie bisher unbehelligt geblieben war, bedeutete bloß, dass sie einen kleinen Vorsprung hatte.
So rasch es ihre Absätze zuließen, marschierte Nora über die Wiese auf das Haus zu. Zu ihrem nächsten Termin würde sie Jeans und Turnschuhe tragen, soviel stand fest.
Früher hatte es ihr Spaß gemacht, zu beobachten und vorsichtig mit den Figuren zu interagieren. Aber die Gefahr war zu groß. Es war besser, den Geschichten aus dem Weg zu gehen. Sofern man wusste, wo die Handlung stattfand.
Hinter Nora wurde ein Tuckern laut. War ja klar. Bücher waren derart vorhersehbar. Kleine graue Wölkchen tauchten in regelmäßigen Abständen hinter dem Hügel auf, gefolgt von einer Motorhaube.
„Verdammt!“ Sie beschleunigte ihre Schritte. Noch fünfzig Meter bis zum Gehöft. Vielleicht schaffte sie es, bevor …
„Hey, Sie da!“, rief eine Männerstimme über das Knattern des Motors hinweg. „Was machen Sie auf meinem Hof?“
Nora sah über ihre Schulter zurück. Mäxchen saß doch nicht alleine auf dem Traktor. Onkel Tom war bei ihm, sein Gesicht ebenso rund und rotwangig wie das seines Neffen. Was auf der Zeichnung niedlich ausgesehen hatte, wirkte nun eher abstoßend. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die wütende Grimasse, die Tom zur Schau trug und die ganz eindeutig ihr galt.