Es geht weiter mit den Outtakes zu Noras Welten – Durch den Nimbus. Ein zweiter Prologentwurf, der zeitlich zwischen dem ersten Prolog und dem ersten Kapitel angesiedelt ist. Nora lässt sich schließlich nicht so leicht unterkriegen, Vorbereitung ist alles für sie … Sie wollte ihren Therapeuten überzeugen, und zwar mit einem Beweis.
Dieses Kapitel entstand, weil sich der liebe Ben ursprünglich sehr viel länger gesträubt hatte, Nora zu glauben. Eldinor, das Buch, in dem die beiden landen, kam erst im 3. Kapitel ins Spiel. Drei Kapitel Psychotherapie fand ich doch ein wenig lang, deshalb wollte ich mit diesem Prolog den fantastischen Aspekt gleich zu Beginn einbauen. Eine Szene, die ich immer noch sehr mag, die durch die Kürzung der ersten Kapitel aber ebenfalls rausgeflogen ist.
Prolog 2
Nora stürzte wie immer ohne Vorwarnung in die neue Welt. Sie stolperte ein paar Schritte den Hang hinunter, und kaum fand sie ihr Gleichgewicht, wurde sie von einer eisigen Windböe getroffen, die sie erneut straucheln ließ. Sie fluchte leise.
Die Kälte war schlimmer als erwartet. Innerhalb weniger Augenblicke kroch sie durch Noras Mantel, stach in ihre Haut. Schnee wirbelte in dicken Flocken umher und raubte ihr vorübergehend die Sicht. Nora schlang die Arme um den Körper und zog die Schultern zusammen. Dieses verdammte Wetter! Nur einer der Gründe, weshalb sie sich auf solche Abenteuer eigentlich nicht mehr einließ: Egal, wie gut man sich vorbereitete, irgendetwas ging immer schief.
Es half nichts. Jammern konnte sie später. Sie musste die Sache hinter sich bringen, bevor sie festfror. Also stemmte sie sich gegen den Sturm und sah nach oben, wo sich der Berg als unregelmäßig gezackter Schatten abzeichnete. Sie entdeckte die Höhle nur wenige Meter bergauf: ein dunkles, unförmiges Loch im Fels. Dort würde sie es finden. Was auch immer es war.
Die Bestie vom Berge. Sehr einfallsreich. Verdrossen stapfte sie bergan.
Doch ihr Unmut machte Nora unvorsichtig. Sie rutschte auf dem verschneiten Boden aus und schlug der Länge nach hin. Im letzten Augenblick riss sie die Arme hoch, um den Sturz abzufangen. Harsches Eis und winzige Steine bohrten sich in ihre Handflächen.
Nora stöhnte. Sie biss die Zähne zusammen und rappelte sich wieder auf. Mit klammen Fingern tastete sie nach der Tasche, die seitlich auf ihrem Rücken hing.
Noch da. Und unversehrt, soweit sie feststellen konnte. Jedenfalls war sie nicht auf dem Boden aufgeschlagen.
Um ganz sicher zu gehen, nahm Nora die Boxkamera heraus und inspizierte sie. Das kuriose Gerät stammte noch von ihrem Großvater. Es war gut hundert Jahre alt, eine echte Antiquität. Was bedeutete, das Ding war nicht auf Elektronik angewiesen, und das war der ausschlaggebende Punkt. Jede andere Kamera hätte bereits bei ihrer Ankunft den Geist aufgegeben. Moderne Technik vertrug sich nicht mit ihren Reisen. Zum Glück war retro gerade in, andernfalls hätte sie niemals einen passenden Film für diesen Methusalem bekommen.
Nora richtete das schwarze Kästchen auf den Höhleneingang und drückte ab. Es schnalzte leise, als die Feder den Auslöser betätigte und den Film belichtete. Dann klappte der Verschluss ordnungsgemäß an seine ursprüngliche Position zurück. Zufrieden steckte sie die Kamera wieder ein.
Na bitte, funktioniert doch.
In der Theorie jedenfalls. Genau würde sie es erst wissen, wenn der Film entwickelt war.
Zuerst galt es jedoch, erst einmal diesen idiotischen Berg zu erklimmen. Nur noch ein paar Meter, bald hatte sie es geschafft. Vorsichtig, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, schob sie sich an die Felsöffnung heran. Ihr blieb nicht viel Zeit. Bald würden die Jäger kommen, und bis dahin musste sie hier verschwunden sein.
Noch ein paar Zentimeter … Nora lugte ins Innere der Höhle. Es war verdammt dunkel dort drinnen, das Tageslicht reichte gerade einmal ein paar Schritt weit hinein. Aber da, am Rand des Lichteinfalls, sah sie etwas. Dichten, schmutzigen Pelz.
Er bewegte sich. Die Bestie vom Berge atmete. Vielleicht hielt sie Winterschlaf?
Wenn das jetzt bloß ein Bär ist, war alles umsonst.
Es war kein Bär. Dagegen sprachen die gewaltigen Hörner, die aus dem Kopfende des Pelzdings ragten. Was also dann? Ein Yeti? Das würde zumindest den Schnee erklären.
Bitte, lass es einen Yeti sein!
In der Ferne wurden Stimmen laut. Männerstimmen. Sie tönten den Berg hoch.
Die Jäger! Nora musste sich beeilen.
Das Licht war schlecht, und richtig erkennen konnte sie das Vieh auch nicht, aber es musste genügen. Mit bebenden Händen zog Nora ihre Kamera erneut hervor. Sie nahm die schlafende Bestie ins Visier, drückte ab und – nichts geschah.
Fassungslos starrte Nora auf die schweigende Box. Gerade eben hatte es doch noch funktioniert! Da dämmerte es ihr. Der Film! Ich habe vergessen, den verdammten Film weiterzuspulen!
Hastig drehte sie an der Kurbel. Einmal, zweimal. Die Stimmen wurden lauter.
Laut genug, um die Bestie zu wecken.
Mit einem Knurren stemmte sich das Ungetüm in die Höhe und geriet ins Licht. Erschrocken wich Nora zurück.
Das Tier, wenn es denn eines war, überragte sie um gut einen Meter. Es war breit wie ein Kleiderschrank und starrte sie aus rotglühenden Augen an. Ein Spalt klaffte inmitten des filzigen Pelzes auf und offenbarte ein riesiges Maul, gespickt mit gelben Reißzähnen. Der Gestank von verfaultem Fleisch wehte Nora entgegen.
Sie drückte den Auslöser. Es klickte.
Das Untier stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Es hob eine gewaltige Pranke und schlug ihr die Kamera aus der Hand. Nora schrie auf. Hundert Jahre Geschichte zerschellten an der Felswand, und damit auch Noras Hoffnung auf einen Beweis.
Die glutroten Augen der Bestie zuckten, nun starrte sie direkt in Noras Gesicht. Die Lefzen des Ungeheuers bebten.
Augenblicklich war die Kamera vergessen. Nora stolperte rückwärts, weg von dem Vieh. Die Bestie folgte ihr. Langsam. Drohend.
Schritt für Schritt bewegten sie sich Richtung Ausgang. Das Untier bleckte die Zähne. Noch einmal holte es zum Schlag aus, da fiel mit einem Mal der rötliche Schein von Fackeln auf seinen struppigen Pelz.
Die Jäger! Sie sind da!
Nora wich weiter zurück. Es würde ihr nicht gelingen wegzulaufen, aber solange sie aus der unmittelbaren Reichweite der geifernden Bestie blieb, war sie gerettet. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis –
Unvermittelt fiel sie zurück in ihre Welt. Diesmal konnte sie ihren Sturz nicht abbremsen, sie knallte rücklings auf den Boden. Ihr Knie schlug gegen die Kante des Couchtisches, ihr Ellbogen gegen den Heizkörper.
Stöhnend richtete sie sich auf. Sie sah sich um.
Der Schnee, der Berg und auch dessen Bestie waren verschwunden. Ebenso die traurigen Überreste ihrer Kamera. Sie war allein in ihrer Wohnung. Nur der E-Reader ihrer Kollegin lag neben ihr am Boden. Nora hob ihn auf.
Ende der Leseprobe erreicht, stand auf dem Bildschirm. Möchten Sie dieses Buch jetzt kaufen? Ja/Nein.
Nora überlegte nicht lange. Sie drückte entschlossen auf Nein.